Interview zum 70. Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft für Urologie e.V. (DGU)
Ob Früherkennung und Diagnostik oder Therapie und Nachsorge: Personalisierte Präzisionsmedizin gilt als Schlüssel des medizinischen Fortschritts. Welche Rolle spielt sie in der Urologie? DGU- und Kongresspräsident Prof. Dr. Paolo Fornara steht Rede und Antwort.
1. Herr Prof. Fornara, welchen Stellenwert hat die individualisierte Medizin in der heutigen Urologie?
In der heutigen Urologie hat die individualisierte Medizin einen zunehmend wichtigeren Stellenwert. Die Rolle der individualisierten oder besser gesagt personalisierten Urologie ist in den letzten Jahren insbesondere in der Uro-Onkologie immer deutlicher geworden und ist heute schon unverzichtbarer Bestandteil einer gezielten Strategie in der urologischen Prävention, Früherkennung, Diagnostik und Therapie.
In naher Zukunft wird es möglich sein, bereits vor Beginn einer Behandlung für den jeweiligen Patienten speziell auf ihn abgestimmte maßgeschneiderte therapeutische Verfahren auszuwählen. So kann bereits im Vorfeld gezielt ermittelt werden, ob der Patient ein bestimmtes Arzneimittel gut oder weniger gut verträgt, oder ob das Medikament bei dem Erkrankungstyp des einzelnen Patienten tatsächlich wirksam werden kann. Dazu wird das Verständnis grundlegender Krankheitsmechanismen und molekularer Relaisstellen genutzt, die für Art, Typ, Aggressivität, Spilling- bzw. Metastasierungstendenz eines Tumors usw. verantwortlich sind. Damit lassen sich Therapien gezielt und somit wirksamer einsetzen. Im Klartext bedeutet dies, dass wir nicht nur a posteriori, z. B. durch das herkömmliche hauptsächlich bildgebend gestützte Staging, die therapeutische Effektivität feststellen, sondern diese vorhersagen können.
2. Um welche urologischen Krankheitsbilder geht es konkret? Welche Maßnahmen der personalisierten Medizin werden in Diagnostik und Therapie heute eingesetzt?
Es gibt verschiedene Beispiele: Beim metastasierten Prostatakarzinom ist z.B. die AR-V7 Protein-Splice-Variante als prädiktiver Biomarker geeignet, die Patienten zu identifizieren, die von der Therapie profitieren. Die in-vivo Isolierung von zirkulierenden Tumorzellen bei Prostatakrebspatienten, z. B. mit der Anwendung eines antikörperbeschichteten Nanodetektors, kann den Behandlungserfolg viel früher als die herkömmliche Diagnostik zeigen. Beim Nierenzellkarzinom gibt es ebenfalls eine Reihe von histopathologischen und molekularbiologischen Veränderungen, die für eine individuelle Prognose von Bedeutung sind. Mittlerweile ist es möglich, Nierenzellkarzinome mit deutlich schlechterer Prognose a priori zu identifizieren und somit das Risikoprofil im Einzelfall besser einzuschätzen. Diese Ansätze ermöglichen eine individuelle Definition des Progressions- bzw. des Metastasierungsrisikos, sodass wir sehr bald in der Lage sein werden, die Sinnhaftigkeit einer adjuvanten Therapie prädiktiv zu definieren. Gerade in der Nutzen-Risikoabschätzung einer adjuvanten Therapie beim Nierenzellkarzinom ist dies verständlicherweise von großer Bedeutung.
Auch beim Urothelkarzinom gibt es gute Ansätze. Mehrere Studien haben gezeigt, dass die Bestimmung von zirkulierenden Tumorzellen im Blut eine nennenswerte klinische Wertigkeit besitzt. Durch diese sogenannte Liquid Biopsy oder „Flüssigbiopsie“ ist es beim Urothelkarzinom möglich, das progressionsfreie Überleben und das Gesamtüberleben sowie insbesondere ein eventuelles therapeutisches Ansprechen vor Beginn der Therapie vorherzusagen und nicht erst nach der Therapie. Das heißt, wir haben neue Möglichkeiten beim Tumor-Monitoring und bei der Wahl der Therapie.
3. Welche Hoffnungen sind berechtigt: Geht es für die Patienten um bessere Heilungschancen, um mehr Lebensqualität oder um ein kurzfristig verlängertes Überleben?
Natürlich geht es für die Patienten um eine maßgeschneiderte und somit bessere Therapie, die Kuration wandelt sich vom generellen Ansatz zu einer objektiven Erwartung. Die Lebensqualität rückt tatsächlich in die Mitte, da wir immer mehr in der Lage sind, die Therapie bezüglich ihrer Wirkung von Fall zu Fall einzuschätzen. Wir müssen dem Patienten nicht mehr belastende Nebenwirkungen zumuten, um erst Monate später, z.B. nach dem nächsten Staging, den Therapieerfolg festzustellen – oder leider zu oft – den Misserfolg. Die Abwägung zwischen therapeutischer Effektivität und Nebenwirkungsspektrum weicht einem begründet erwarteten Erfolg und lässt Nebenwirkungen in einem anderen Licht erscheinen.
4. Erhalten alle Patienten diese modernen Therapien überall?
Aktuell können die Chancen der personalisierten Urologie an großen Zentren und insbesondere an Kliniken mit ausgeprägter Forschungsaktivität ausgeschöpft werden. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung hat ein Maßnahmenpaket zur strategischen Forschungsförderung der personalisierten Medizin aufgelegt. Dieser Aktionsplan „Individualisierte Medizin“ wurde im April 2013 verabschiedet und umfasst die Bereiche der biomedizinischen Grundlagenforschung, der Translation und der wissenschaftlichen Verwertung. So kommen an großen Kliniken vermehrt patientenspezifische Verfahren zur Geltung, die zum Teil auch dort entwickelt oder mitentwickelt wurden.
5. Beispiel Früherkennung von Prostatakrebs: Kann ein Gentest schon bald Risikogruppen identifizieren, die ein intensiveres Screening benötigen?
Ein Team um Rosalind Eeles vom Institute of Cancer Research in London hat in einem Genvergleich zwischen etwas mehr als 80.000 Männern mit Prostatakrebs und einer Gruppe von 60.000 Männern ohne Prostatakrebs weitere sogenannte Einzelnukleotid-Polymorphismen gefunden, die mit einem erhöhten Erkrankungsrisiko verbunden sind.
Bisher wussten wir, dass die Familiarität eindeutig zu den Risikofaktoren gehört. Durch den Test auf insgesamt 147 Risikogene könnte bald ein individuelles Screening zum Einsatz kommen, das es erlaubt, die Zielgruppe mit einem effektiv erhöhten Erkrankungsrisiko noch genauer zu definieren. Damit werden ungerichtete, unnütze und belastende Screeningmaßnahmen vermieden. Im Alltag könnte dies bedeuten, dass Männer mit einer familiär bedingten Prädisposition zum Prostatakarzinom eine Speichelprobe abgeben, aber nur bei hohem Risikoscore eine intensivierte Vorsorge erfolgt. Im Übrigen hat die Definition der PC-Risikogene eine Chance für die Krebsimmuntherapie aufgetan. Bald könnte es möglich sein, mit dem Gentest Patienten zu identifizieren, die für diese Therapieform infrage kommen. Damit rückt z. B. ein brauchbarer Gentest in greifbare Nähe für einen klinischen Einsatz.
Obwohl in der Vergangenheit kompetente und erfahrene Urologen auf empirische Art eine gute personalisierte Urologie betrieben haben, indem sie Anamnese, Patientencharakteristika, Risikofaktoren, Krankheitsmerkmale, Heilungschancen und Nebenwirkungen verantwortungsvoll und sorgsam abgewogen haben, können heute die Entscheidungspflichten der individualisierten Urologie rational und reproduzierbar herangezogen werden.
6. Würden Sie bereits von einem Paradigmenwechsel sprechen?
Ja, durchaus, denn die personalisierte Medizin hat Einzug in das Selbstverständnis der Urologinnen und Urologen gefunden. Der Einzelfall rückt unter Berücksichtigung seiner individuellen Merkmale bei der Früherkennung, der Diagnostik und insbesondere bei der Therapie immer mehr in den Vordergrund. Im klinischen Alltag wird das ebenfalls am Beispiel Prostatakrebs sehr deutlich. Die generalisierte Früherkennung für jeden Mann einmal im Jahr ist längst Vergangenheit, heute geht es um risikoadaptierte Früherkennung in individuell sinnvollen Intervallen und um eine risikoadaptierte Behandlung, die sich an Lebensqualität und therapeutischem Erfolg orientiert und von der Acitive Surveillance über fokale Therapien bis zur radikalen Prostataentfernung reicht. Diese Entwicklung ist in der Urologie in Klinik und Praxis an der Tagesordnung und spiegelt sich natürlich auch im Programm der 70. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Urologie vom 26. bis 29. September 2018 in der Messe Dresden.
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