Psychische Erkrankungen verzeichnen trotz ihrer großen Präsenz in der Gesellschaft noch immer ein stiefmütterliches Dasein und werden vielerorts nicht so ernstgenommen wie körperliche Leiden.
Oftmals befürchten Betroffene Diskriminierung und Ausgrenzung – oder von zuständigen Stellen nicht in ihrem Leid anerkannt zu werden. Dabei können chronisch verlaufene Störungen der Seele durchaus zu Ansprüchen im Sozialstaat führen. Darauf macht der Leiter der Selbsthilfeinitiative zu Zwängen, Phobien und Depression, Dennis Riehle (Konstanz), in einer aktuellen Aussendung aufmerksam: „Generell kann bei leichten Verlaufsformen einer psychischen Funktionsstörung nach gültiger Rechtsprechung davon ausgegangen werden, dass ein sogenannter ,Grad der Behinderung‘ (GdB) im unteren Bereich von rund 30 festgestellt wird, der eine Aussage darüber trifft, ob und in welchem Umfang der Erkrankte zum Beispiel Steuererleichterungen, Unterstützung am Arbeitsplatz oder mögliche Fahrtkostenpauschalen geltend machen kann. Auf der zwischen 0 und 100 festgelegten Skala gilt ein Mensch im Sinne des SGB IX bereits ab einem Wert von 20 als ,behindert‘, ab 50 dann letztlich auch als ,schwerbehindert‘ mit dem Anspruch auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises zum Nachweis etwaiger Rechte. Bevorteilungen sind auch bei einem Wert von 30 und 40 schon möglich, arbeitsrechtlich ist dann eine Gleichstellung im Job als Schwerbehinderter denkbar und damit verbunden ein besserer Kündigungsschutz, eine bevorzugte Einstellung oder auch eine Woche Mehrurlaub. Und selbst mit GdB 20 können bereits verschiedene Steuernachlässe erfolgen“, führt der 37-jährige Sozialberater aus.
„Der GdB wird auf Antrag vom Versorgungsamt anhand der jeweiligen Aktenlage festgelegt. Eine persönliche Begutachtung durch den Sachbearbeiter erfolgt in der Regel also dabei nicht. Das Verfahren ist für den Betroffenen unabhängig des Ausgangs kostenfrei. Gegen den Bescheid ist Widerspruch möglich. Regelhaft wird bei Vorliegen einer psychischen Erkrankung die Art und Ausprägung des jeweiligen Störungsbildes für die Beurteilung herangezogen. Somit bedeutet dies grundsätzlich: Zunächst wird das Leiden in Einklang mit den sogenannten ,Versorgungsmedizinischen Grundsätzen‘ mit einem Grad festgesetzt, der pauschal für das Krankheitsbild als Rahmen definiert ist. Doch im Weiteren muss dann die individuelle Beeinträchtigung abgewogen werden, die zu einer Feinjustierung des GdB führt. Gerade psychische Erkrankungen müssen in ihrer Gesamtheit betrachtet werden. Handelt es sich um ein chronifiziertes und schwer verlaufendes Problem, sind auch Ergebnisse jenseits von 50 durchaus möglich. Denn die Bewertung orientiert sich schlussendlich an den ,funktionellen Auswirkungen‘. Das bedeutet, dass nicht die Diagnose allein aussagekräftig ist, sondern die Symptome (welche im Schwerbehindertenrechts als ,Funktionsstörungen‘ bezeichnet werden). Somit müssen die Auswirkungen des Gesundheitsschadens auf alle körperlichen und seelischen Systeme des Einzelnen betrachtet werden. So sind vom Gutachter auch psychosomatische, kognitive, soziale und persönlichkeitsrelevanten Aspekte zu werten. Abhängig davon, welcher Bereich den höchsten Einzel-GdB aufweist (der im Verhältnis zu anderen Krankheitsbildern auf Basis der Leitlinien eingeordnet wird), wird selbiger als Ausgang für die Berechnung des endgültigen Gesamt-GdB herangezogen. Sind darüber hinaus gehende Störungen in weiteren Funktionsbereichen vorhanden, kann der Einzel-GdB um bis zu 20 erhöht werden – sofern sich die Leistungsbeeinträchtigungen nicht schon wechselseitig beeinflussen und damit durch den Ursprungs-GdB ausreichend berücksichtigt sind“, erklärt Dennis Riehle.
Der Psychologische Berater, der selbst seit knapp 25 Jahren psychisch erkrankt ist, führt weiter aus: „Beispielhaft kann bei einer isolierten Zwangsstörung von einem Einzel-GdB von wenigstens 50, bei einer phobischen Angststörung von zumindest 30, bei einem Burnout durchaus 20 und bei einer mittelgradigen Depression von 40 ausgegangen werden. Liegt aber exemplarisch gleichsam auch noch eine schwere soziale Anpassungsstörung vor, nimmt diese einen eigenen Einzel-GdB von 20 ein. So kann der letztliche Gesamt-GdB am Ende um 10 höher als der Ausgangs-GdB der Grunderkrankung liegen. Dieser wird nämlich nicht durch das bloße Addieren der Einzelwerte gebildet. Stattdessen ist auch hier die Krankheit beziehungsweise die Leistungseinschränkung mit dem höchsten Einzel-GdB wegweisend, zu dem bei erheblichen Begleiterkrankungen oder dem Hinzukommen von Störungsbildern aus anderen Körper- und Funktionsbereichen ein meist maximaler Aufschlag von bis zu 20 erfolgen kann, woraus sich letztendlich der Gesamt-GdB ergibt. Zudem muss beachtet werden, dass bei Vorliegen mehrerer Erkrankungen aus den jeweiligen Einzel-GdB ein Gesamtgrad der Behinderung entsteht. Entscheidend ist das komplette Bild der Funktionsbeeinträchtigung. Leidet ein Patient neben seiner Depression zum Beispiel noch an einer funktionellen Bewegungsstörung oder Lähmungserscheinungen, die mit einem einzelnen GdB von 30 anzusetzen wären, wird aus dem anfänglichen Grad 40 im Endeffekt ein Gesamt-GdB 60. Deshalb ist es beim Antrag auf Feststellung der Schwerbehinderteneigenschaft auch nicht ausreichend genug, wenn ärztlicherseits eine Diagnose nach den geltenden Kriterien festgestellt und attestiert wird. Viel eher muss daneben ergänzend bescheinigt werden, inwiefern konkrete Einschränkungen der Alltags- und Lebensqualität vorliegen und welche Funktionssysteme von Körper und Psyche in welchem Ausmaß betroffen sind“.
Abschließend rät Dennis Riehle Betroffenen aufgrund seiner Erfahrungen: „Oftmals scheitert der Ausgang im Verfahren an der ungenügenden Beschreibung dieser Beeinträchtigungen durch den behandelnden Facharzt. Patienten sollten insofern stets darauf abheben und bestehen, dass die Befunde nicht nur einen ICD-10-Code ausweisen. Bedeutsamer ist viel eher die klare Darlegung, welche Konsequenzen die Krankheit hat. Empfehlenswert ist daher auch, dass die Betroffenen ihrem Antrag an das Versorgungsamt einen eigenen Erfahrungsbericht beifügen, in welchem auch sie nochmals bildlich festhalten, in welchen Lebensbereichen und Funktionssystemen Probleme bestehen. Orientierend hilft dabei die Frage: Was kann ich heute nicht mehr (so gut) wie vor Manifestation der Krankheit? Der Schwerbehindertenausweis dient am Ende zur Inanspruchnahme und Durchsetzung zusätzlicher Rechte, welche sich auf die Steuerlast, die Nachteilsausgleiche im Beruf, Grundlagen für weitere sozialrechtliche Ansprüche (beispielsweise bei späterem Eintritt einer eventuellen Pflegebedürftigkeit), Vergünstigungen im Alltag oder Sozialtarife auswirken. Gleichzeitig ist die Inanspruchnahme der Schwerbehinderteneigenschaft eine im sozialen Rechtsstaat allen Hilfsbedürftigen zustehende Anerkennung ihrer Benachteiligungen, letztendlich gibt es keinerlei Grund, sich dafür schämen zu müssen. Ganz im Gegenteil: Immerhin kann das eigene Bekenntnis zu einem Anderssein auch einen positiven Effekt auf unser Selbstbild haben und daneben ebenso einen psychologischen Mehrwert besitzen. Faktische Diskriminierungen durch eine ausgewiesene Schwerbehinderung sind insofern weder gegenüber Versicherungen, Arbeitgebern oder öffentlichen Stellen zu befürchten“.
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