Zur Bedeutung des Ankereffekts in Vergleichsgesprächen vor Zivilgerichten
1. Publikation mit umfassender Studie mit österreichischen Richtern und Richterinnen
Anwälte sind immer wieder mit einem bemerkenswerten Umstand konfrontiert: Wenn in einem Zivilverfahren, in dem eine konkrete (in der Regel Geld-)Leistung gefordet wird, das Klagebegehren besonders – in manchen Fällen möchte man meinen: beinahe absurd – hoch angesetzt wird, reüssieren klagende Parteien in Vergleichsgesprächen eher, als wenn ein Klagebegehren gefordert wird, das ex ante betrachtet als realistisch und (im Obsiegensfall der klagenden Partei der Höhe nach) realistisch erscheint.
Ob diese Wahrnehmung repräsentativ ist oder dem „Tunnelblick“ des Autors geschuldet ist, untersuchte Dorian Schmelz in einer umfangreichen Studie, an der mehr als 60 österreichische Berufsrichter teilnahmen. Diese wurden mit einem fiktiven Fall konfrontiert, nach dessen Studium sie Vergleichsgespräche zwischen Streitparteien anleiten sollten. So wurden bestimmte Faktoren, etwa der als angemessen erachtete, von der beklagten Partei zu leistende Betrag, erhoben.
Dieselbe Studie wurde mit zwei weiteren Gruppen an Teilnehmern durchgeführt: Einerseits mit Personen mit juristischer Ausbildung, aber ohne Verhandlungserfahrung vor Gericht, andererseits mit juristischen Laien. Diese Ergebnisse wurden jenen der Erhebungen mit Richtern gegenüber gestellt.
Die Erkenntnisse der experimentellen Befragung von insgesamt mehr als 550 Personen mögen für die rechtssuchende Bevölkerung, in deren Augen Justitia blind, also unvoreingenommen und sachlich urteilt, verstörend wirken. Denn ein verhaltenspsychologischer Effekt dürfte dazu führen, dass Justitia ihre Augenbinde abstreift und ihren Blick mit großem Interesse besonders hohen Geldbeträgen zuwendet.
2. Der Ankereffekt
Der Ankereffekt ist ein kognitiver Verzerrungseffekt, bei dem Menschen dazu neigen, sich zu stark auf das erste erhaltene Informationsstück, den „Anker“, zu verlassen, wenn sie Entscheidungen treffen. Die nachfolgenden Urteile und Interpretationen werden oft durch diesen ersten Anker beeinflusst, was zu potenziell irrationalen und voreingenommenen Ergebnissen führen kann. Im rechtlichen Kontext, sowohl in Strafverfahren als auch in Zivilverfahren, kann der Ankereffekt erhebliche Auswirkungen haben.
Menschen, die dem Ankereffekt ausgesetzt werden, tendieren dazu, eine Lösung in etwa in der Mitte zwischen dem Anker der einen Seite und dem Anker der anderen Seite als gerecht zu empfiinden. Möglicher Weise denken auch Sie, die Differenz in der Mitte „durchzuschneiden“, sei fair. Dann denken sie ähnlich wie unsere Berufsrichter – und unterliegen zugleich in den allermeisten Fällen einem fundamentalen Denkfehler.
Warum dem so ist, und welch andere psychologische Folgen ein sehr hohes Klagebegehren auf Entscheidungsträger hat, lesen Sie in „Im Zweifel die Mitte: Zur Bedeutung des Ankereffekts in Vergleichsgesprächen vor Zivilgerichten“, erschienen im Tectum Wissenschaftsverlag und erhältlich unter anderen auf Amazon und im Manz Verlag. Eine vertiefende Vorschau auf das Buch finden Sie hier.
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